Konnte sie denn anders, als auf ihn 
stolz sein, der ihr Schlichtestes verschönte? 
War nicht selbst die hohe, großgewöhnte 
Nacht wie außer sich, da er erschien? 
Ging nicht auch, dass er sich einst verloren, 
unerhört zu seiner Glorie aus? 
Hatten nicht die Weisesten die Ohren 
mit dem Mund vertauscht? Und war das Haus 
nicht wie neu von seiner Stimme? Ach 
sicher hatte sie zu hundert Malen 
ihre Freude an ihm auszustrahlen 
sich verwehrt. Sie ging ihm staunend nach. 
Aber da bei jenem Hochzeitsfeste, 
als es unversehns an Wein gebrach, - 
sah sie hin und bat um eine Geste 
und begriff nicht, dass er widersprach. 
Und dann tat er's. Sie verstand es später, 
wie sie ihn in seinen Weg gedrängt: 
denn jetzt war er wirklich Wundertäter, 
und das ganze Opfer war verhängt, 
unaufhaltsam. Ja, es stand geschrieben. 
Aber war es damals schon bereit? 
Sie: sie hatte es herbeigetrieben 
in der Blindheit ihrer Eitelkeit. 
An dem Tisch voll Früchten und Gemüsen 
freute sie sich mit und sah nicht ein, 
dass das Wasser ihrer Tränendrüsen 
Blut geworden war mit diesem Wein. 
Rainer Maria Rilke, zwischen dem 15. und 22.01.1912, Duino 
Das Marien-Leben