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Atmete ich nicht aus Mitternächten

Atmete ich nicht aus Mitternächten,
dass du kämest einst, um deinetwillen,
solche Flutung?
Weil ich hoffte, mit fast ungeschwächten
Herrlichkeiten dein Gesicht zu stillen,
wenn es in unendlicher Vermutung
einmal gegen meinem über ruht.
Lautlos wurde Raum in meinem Zügen;
deinem großen Aufschaun zu genügen,
spiegelte, vertiefte sich mein Blut.

Wenn mich durch des Ölbaums blasse Trennung
Nacht mit Sternen stärker überwog,
stand ich aufwärts, stand und bog
mich zurück und lernte die Erkennung,
die ich später nie auf dich bezog.

O was ward mir Ausdruck eingesät,
dass ich, wenn dein Lächeln je gerät,
Weltraum auf dich überschaue.
Doch du kommst nicht, oder kommst zu spät.
Stürzt euch, Engel, über dieses blaue
Leinfeld. Engel, Engel, mäht.

Rainer Maria Rilke, Ende 1913, Paris
Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.)