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Die Geschwister

                        I

O wie haben wir, mit welchem Wimmern,
Augenlid und Schulter uns geherzt.
Und die Nacht verkroch sich in den Zimmern
wie ein wundes Tier, von uns durchschmerzt.

Wardst du mir aus allen auserlesen,
war es an der Schwester nicht genug?
Lieblich wie ein Tal war mir dein Wesen,
und nun beugt es auch vom Himmelsbug

sich in unerschöpflicher Erscheinung
und bemächtigt sich. Wo soll ich hin?
Ach mit der Gebärde der Beweinung
neigst du dich zu mir, Untrösterin.

                        II

Lass uns in der dunkeln Süßigkeit
nicht der Tränen Richtung unterscheiden.
Bist du sicher, dass wir Wonnen leiden
oder leuchten von getrunknem Leid?

Meinst du weinend, dass Entbehrung weher
als ein eigenmächtiges Geben sei?
Wenn die Menge einst der Aufersteher
uns entschwistert, und wir, irgend zwei,
bei der jäh enttötenden Fanfare
taumeln aus dem aufgestürzten Stein:
o wie wird dann diese sonderbare
Lust zu dir den Engeln schuldlos sein.

Denn auch sie ist tief im Geiste, siehe:
in dem Strahlenden, der brennt und braust.
Und dann hilfst du mir auf meine Kniee
und dann kniest du neben mir und schaust.


Rainer Maria Rilke, Ende 1913, Paris
Briefe an eine Freundin (Claire Goll) 1918-1925. New York 1944.