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Das Elend hat ja nie auf mir bestanden

Das Elend hat ja nie auf mir bestanden,
nur dass ich es begriff, wo's kaum geschah;
wenn ich im Frühn, wo sie so schnell verschwanden,
des Schulkinds aufgeschreckte Schultern sah,
so kam mir meine Wohnung schon abhanden,
im Zuchtlosen stand ich da.
Der Hunde Heimweh ging auf mich enorm
anklagend über: wenn sich dürftig einer,
genau ausfüllend seines Elends Form,
hinlegte, wurde mir das Leben reiner
um seine Demut.      Eine Bettlerin
vermochte mir mit ihrer stillen Hand,
in der sich sichtbar nichts befand,
aus meinem Angesicht, aus jedem Sinn
die Welt zu nehmen, dass sie nicht bestehe:
wo ist sie denn, wenn ich sie dort nicht sehe,
wo Hunger ist nach einem Gegenstand.
Ich wurde manchmal im Vorübergehn
die Wände inne, die uns stumm begleiten,
und sah erstarrt, wie auf den beiden Seiten
von Gittern die Gefangenen entstehn.
In frohen Wiesen einer Blume Knick,
verfolgter Vogel, der in matten Bogen
sich überwarf, schon war vor meinem Blick
das Schleusentor des Stromes aufgezogen
und donnernd überstürzte sich Geschick.
O dass ich doch, wenn du das Aug erhobst,
so findig sei, sofort, vor aller Rede,
in deinem ersten großen Aufschaun jede
Lust zu verstehn, wie man der Schale Obst
am Frühstückstisch den ganzen Sommertag
aufeinmal ansieht, sicher, bis in seine
selige Nacht.       Nicht nur wie ein Betrag
sei mir die Freude vorgezählt. Sie weine
sich an mir aus.       Denn was ist Seligkeit,
stürzt sie nicht völlig aus dem kleinsten Winke.
Im Weltgerichte müht sich Gottes Linke,
die Rechte aber ruht nur auf dem Kleid.

Rainer Maria Rilke, November 1913, Paris
Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.)