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O Herz, vom Leben langsam abgeschnürt

O Herz, vom Leben langsam abgeschnürt,
wo du es anrührst, schließt sich eine Türe;
du hast gebetet alle Nächte: Führe
uns in Versuchung       Und du bist geführt
in alle Arme aller.       Bist versucht
von allen Munden, die an Sinnen saugen,
hineingetaucht in alle Augen,
bist, wie Geruch, von Hunden angespürt.
So aufgedeckt wie einziges Haus
inmitten Sümpfen, wie der alte Pfahl
an dem verfeindet sich die Wege trennen,
den alle einmal, zweimal, noch ein Mal
anstarren so als müssten sie ihn kennen:
Du Aufgezeigter, wo ist eine Qual
die dich verbärge, die in ihrem Schoß
vermöchte deine Bildung zu verhalten
dass du an sie dein Antlitz grenzenlos
wegweintest in die unkenntlichen Falten.
O Mutter Qual in deinen dichten Stoffen
wo sanktest du, Abtragende, zusamm,
an welcher Gramwand, welchem Blitzschlagstamm
find ich dich kauern.       Lass den Mantel offen.
Ich bin zu groß.       Dir werd ich wieder Kind,
ich bin zu sichtbar unter diesen Dingen,
Geliebte können mich nicht unterbringen,
die Sonne glänzt mit mir, mich bauscht der Wind.

Rainer Maria Rilke, Herbst 1913, ?
Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.)