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Verständigt mit abnehmender Natur

Verständigt mit abnehmender Natur,
fällt mir die Kraft in dem, was ich erfuhr.
Den Engel stellt Gott vor wie eine Uhr,
er mag im Herbst künftigen Herbst empfinden.
Wir aber schlürfen mit den Winden
und ziehen Spur und wischen Spur.

Das Meer blüht nie.       Jetzt wieder wächst das Meer
und kommt sich von den Rändern stark entgegen,
und Christus, auf dem Überfluss von Wegen,
geht einzig gläubig drüber hin und her.

Der Himmel singt in seiner Sicherheit,
hoch über Zeit die reichen Sterne singen,
wir treiben mit den abgehärmten Dingen
zwieschweigende Geselligkeit.

In trüben Spiegeln suchen wir Beweis
für unser Aufstehn, während unbewiesen
der Schlaf zurückbleibt.       Vielleicht Schlaf von Riesen
von unsrem ganzen Blute heiß.

Doch eingeschränkt in morgengraue Zimmer
gewöhnen wir uns an des Tages Gang
und nehmen Nahrung an und wohnen immer
die gleiche Einsamkeit entlang.
Und haben Hoffnung und Verwunderung
und dies zur Sorge, jenes zum Gewissen -
nur der uns einstens dringend hingerissen
der Schwung, der Schwung:
Ihr Engel, jener, der euch täglich reißt
... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ...

Rainer Maria Rilke, Herbst 1913, ?
Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.)