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Wie junge Wiesen

Wie junge Wiesen, blumig, einen Abhang
durch einen leichten Überzug von Wachstum
teilnehmend machen am Gefühl des Jahres,
windwissend, fühlend, milde, beinah glücklich
über des Bergs gefährlich-schräger Bildung:
so ruht Gesicht, hinblühend, mildvergänglich
auf dieses Schädels Vorderflächen, die,
absteigend, wie mit eines Weinbergs Neigung,
zum All sich halten, Strahlendem gegenüber.

Wie die Eichel in ihrem Becher, so ruhte diesem becherig fassenden Haupte von oben die Krone ein: es war ein Teil von ihr, sie bildeten zusammen ein einziges Stück Herrschaft, die Frucht des König die der Himmel zur Süße brachte. (Ein so leicht auf seinen Kern gelegtes Gesicht, kaum mehr als die Einteilung des Gnomons auf schwerem(?) schrägem Stein. Gesicht, lautlos abfließend, oh Weinberg, von der Schräge des Skeletts, breite ganz niedere Stirn, über deren ersten Streifen schon die Krone Besitz ergreift; flügeliges Abstehen der geistig-feinen Ohren. Der Bacchos eines inneren Weines. Gesicht, dessen konstruktive Bedingungen mit seiner Verwendung übereinstimmten, so dass sie aus sich selbst, ohne Zutat, zum reinsten Ausdruck wurden. Ausdrücklichkeit des Mundes. Oberlippe über der unteren, wie die Göttin, die den Himmel abhebt, von der Erde sich wegbiegend. Aufruhen ihres reinen Schwunges auf der vorgeschobenen Fülle der unteren Lippe. Leichtes Eingezeichnetsein der oberen Züge, des flachen Auges, der groß tragenden Augenbogen, gegen das Ausgeführtsein im Munde; die Nase giebt den Übergang mit ihren rein sinnlich auseinander gestellten Flügeln.) (Vorläufig)

Rainer Maria Rilke, 30.7.1913, ?
Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.)