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Ich hielt mich überoffen

                        I

Ich hielt mich überoffen, ich vergaß
dass draußen nicht nur Dinge sind und voll
in sich gewohnte Tiere, deren Aug
aus ihres Lebens Rundung anders nicht
hinausreicht als ein eingerahmtes Bild;
dass ich in mich allem immerfort
Blicke hineinriss: Blicke, Meinung, Neugier.
      Wer weiß, es bilden Augen sich im Raum
und wohne bei. Ach nur zu dir gestürzt,
ist mein Gesicht nicht ausgestellt, verwächst
in dich und setzt sich dunkel
unendlich fort in dein geschütztes Herz.

                        II

Wie man ein Tuch vor angehäuften Atem,
nein: wie man es an eine Wunde presst,
aus der das Leben ganz, in einem Zug,
hinauswill, hielt ich dich an mich: ich sah,
du wurdest rot von mir. Wer spricht es aus,
was uns geschah? Wir holten jedes nach,
wozu die Zeit nie war. Ich reifte seltsam
in jedem Antrieb übersprungener Jugend,
und du, Geliebte, hattest irgendeine
wildeste Kindheit über meinem Herzen.

                        III

Entsinnen ist da nicht genug, es muss
von jenen Augenblicken pures Dasein
auf meinem Grunde sein, ein Niederschlag
der unermesslich überfüllten Lösung.
Denn ich gedenke nicht, das, was ich bin
rührt mich um deinetwillen. Ich erfinde
dich nicht an traurig ausgekühlten Stellen,
von wo du wegkamst; selbst, dass du nicht da bist,
ist warm von dir und wirklicher und mehr
als ein Entbehren. Sehnsucht geht zu oft
ins Ungenaue. Warum soll ich mich
auswerfen, während mir vielleicht dein Einfluss
leicht ist, wie Mondschein einem Platz am Fenster.


Rainer Maria Rilke, November oder Dezember 1911, Duino
Insel Almanach 1952 (korrigiert in: Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.))