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Wenn endlich Drang und Stumpfheit sich entzwein

Wenn endlich Drang und Stumpfheit sich entzwein
und jetzt in dir, du Kind von unbekannten
Hinglimmenden, die nie mit Flamme brannten,
auf einmal Wärme wird und Feuerschein:

dann Engel sein und nieder, ein beschwingter,
der sich zu dir entschließt und tönt und tut,
und eine Klängefolge unbedingter
Gefühle führen durch dein neues Blut.

Das Selbstverständliche des Paradieses
dir wiederbringen wie ein Wind der bläst,
im Wiesenstilln und im Einklang des Kieses
dir leicht zu wissen geben wie du gehst.

Dir eine Rose zeigen, diese, drüben,
zu weit für uns und doch schon großgeblüht,
und hunderte Verlorene zu üben
in deinem aufgefundenen Gemüt.

Sieh, sieh den Fluss, das Ufer und die Bäume,
den Rücken ruhiger Angler, einen Hund,
ist dies doch Dasein, sind es gute Träume?
Freundschaftlich fließt es in den Hintergrund.

Und dieser Hang ist uns so sanft bereitet:
wir ruhen aus und ahnen dass wir tun,
entzückt dass unser Herz uns überschreitet
und müdgelaufen wie in Kinderschuhn.

Dies ist so immer, wo ist eine Stelle
an uns die hingeht, fühle: alles weilt,
und klare Dunkelheit und tiefe Helle
ist ohne Unterschiede ausgeteilt.

Befriedigungen ungezählter Jahre
sind in der Luft, voll Blumen liegt dein Hut
und der Geruch aus deinem reinen Haare
mischt sich mit Welt als wäre alles gut.

Rainer Maria Rilke, 26./27.6.1911, Paris
Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.)