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Ich komme aus meinen Schwingen heim

Ich komme aus meinen Schwingen heim,
mit denen ich mich verlor.
Ich war Gesang, und Gott, der Reim,
rauscht noch in meinem Ohr.

Ich werde wieder still und schlicht,
und meine Stimme steht;
es senkte sich mein Angesicht
zu besserem Gebet.
Den andern war ich wie ein Wind,
da ich sie rüttelnd rief.
Weit war ich, wo die Engel sind,
hoch, wo das Licht in Nichts zerrinnt -

Gott aber dunkelt tief.

Die Engel sind das letzte Wehn
an seines Wipfels Saum;
dass sie aus seinen Ästen gehn,
ist ihnen wie ein Traum.
Sie glauben dort dem Lichte mehr
als Gottes schwarzer Kraft,
es flüchtete sich Lucifer
in ihre Nachbarschaft.

Er ist der Fürst im Land des Lichts,
und seine Stirne steht
so steil am großen Glanz des Nichts,
dass er, versengten Angesichts,
nach Finsternissen fleht.

Er ist der helle Gott der Zeit,
zu dem sie laut erwacht,
und weil er oft in Schmerzen schreit

und oft in Schmerzen lacht,
glaubt sie an seine Seligkeit
und hangt an seiner Macht.

Die Zeit ist wie ein welker Rand
an einem Buchenblatt.
Sie ist das glänzende Gewand,
das Gott verworfen hat,
als Er, der immer Tiefe war,
ermüdete des Flugs
und sich verbarg vor jedem Jahr,
bis ihm sein wurzelhaftes Haar
durch alle Dinge wuchs.


Rainer Maria Rilke, 1.10.1899, Berlin-Schmargendorf