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An den Jungen Bruder: Du, gestern Knabe

An den jungen Bruder

Du, gestern Knabe, dem die Wirrnis kam:
Dass sich dein Blut in Blindheit nicht vergeude.
Du meinst nicht den Genuss, du meinst die Freude;
du bist gebildet als ein Bräutigam,
und deine Braut soll werden: deine Scham.

Die große Lust hat auch nach dir Verlangen,
und alle Arme sind auf einmal nackt.
Auf frommen Bildern sind die bleichen Wangen
von fremden Feuern überflackt;
und deine Sinne sind wie viele Schlangen,
die, von des Tones Rot umfangen,
sich spannen in der Tamburine Takt.

Und plötzlich bist du ganz allein gelassen
mit deinen Händen, die dich hassen -
und wenn dein Wille nicht ein Wunder tut:
- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Aber da gehen wie durch dunkle Gassen
von Gott Gerüchte durch dein dunkles Blut.


Rainer Maria Rilke, 29.9.1899, Berlin-Schmargendorf