Deine Seele sing ich, die an mir erstandene.
Da ich vorüberging stand sie im Zwischenraum
rufend nicht, winkend nicht, nur wie abhandene
Dinge, erblinkend kaum.
Bin ich ein Engel denn, dass ich sie gleich ergriff?
Brenn ich so hell in dem Seitenschiff
meiner Einsamkeit?
Sieh, ich erkannte sie
nahte mich, wandte sie
meinem Gesichte zu.
Seele, unscheinbare
oh, wie du staunend warst,
die du mir offenbarst
das Unausweinbare.
Sprich in der Nacht zu mir -
nicht mit der Rede sprich
(Worte die wissen wir),
aber wir wollen dich
geben an Seiendes
und durch Entzweiendes
mit dir hinübergehn
in ein befreiendes
weilendes Weltgeschehn.
Seele, oh dass ich dich
sänge, du steigende.
Dass ich ein Schweigen um deine schweigende
Mitte erhübe,
dass meine Trübe
zerrisse und Fänge von Licht
dich griffen: oh wisse
das Gleichgewicht, rührende Seele.
Rainer Maria Rilke, Anfang Juli 1911, Paris
Gedichte 1906 bis 1926.
(Sammlung der verstreuten und nachgelassenen Gedichte aus den mittleren und späten Jahren.)